Sonntag, August 13, 2006

Rituale


Manchmal weiß man gar nicht so genau, wie so manches Ritual entstanden ist. Das ist aber auch nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass es sie gibt und dass sie einem einen Halt geben oder auch nur einen Handlungsrahmen an dem man sich orientieren kann.

Tochter-Kind und Vater-Mann haben auch so ein Ritual. Es ist aus dem „Gute Nacht sagen“ entstanden. Früher, bevor es das Ritual gab. Kam Tochter-Kind zu Vater-Mann, sagte „Gute Nacht“, und das war’s dann. Vater-Mann sagte dann wohl auch so was wie: „Gute Nacht, mein Schatz“. Im Laufe der Zeit schlichen sich kleine Erweiterungen und Variationen ein. Wenn Vater-Mann Tochter-Kind umarmte, krabbelte er sie hin und wieder an ihren Rippen und meinte dabei: „Oh mein Kind, was bist du fett, geworden!“

-„Ich bin doch gar nicht fett.“

-„Natürlich bist du fett. Wenn ich dünn bin – und niemand wird dem widersprechen wollen – und Du genau das Gegenteil von dem bist, was ich bin, dann bist du fett.“ Dieser Argumentationskette ließ sich nichts entgegensetzen. Dies sah dann auch Tochter-Kind ein. Schließlich kann man sich gegen Tatsachen nicht wirklich lange verschließen.

- „Jetzt, im Lichte deiner Weißheit, sehe auch ich es ein –Liebster Herr Vater. Mutter-Frau jedoch, ist dreimal fetter als wir.“

- „So sei es denn Tochter-Kind. Gehabe dich wohl und hebe dich von dannen“.

Damit hat es wohl begonnen. Da die Tatsache, dass Mutter-Frau viel fetter war, als alle anderen, nun einmal unverrückbar feststand, musste diese auch nicht immer wieder wiederholt werden. Deshalb richtete sich die Ritualgestaltung mehr auf Gegebenheiten, die gar nicht oft genug betont und sich gewünscht werden können. Und was liegt schon näher, als eine Gute Nacht und schöne Träume zu wünschen? Wenig.

So entwickelte sich das Ritual in dieser Weise.

-„Gute Nacht, geliebter Herr Vater-Mann“. Leicht neigt Tochter-Kind den Kopf, damit Vater-Mann aus der sitzenden Position heraus die zaghaft dargebotene Stirn mit einem nicht schleimigen Kuss streifen kann. Kaum streifen die Lippen die Kopfhaut.

- „Gute Nacht, mein Schatz. Schlaf schön und Träum was schönes.“ Pause, 5 Sekunden, 10 Sekunden, manchmal 15 Sekunden, „muss nicht von mir sein, falls dir etwas besseres einfällt.“

- „Oh geliebter Herr Vater-Mann, wie kann es etwas schöneres geben, von dem ich träumen könnte. Sicherlich will mir nichts ähnlich Schönes einfallen.“

- „Tochter-Kind, postulieren wir hier einmal die Unendlichkeit des Universums, so ist es nicht völlig von der Hand zu weisen, dass es etwas ähnlich Schönes für deinen Traum existieren kann.“

- „Dies mag wohl so sein, aber es wird nahezu unendlich schwierig werden, ein solch Ding zu finden. Und warum die Mühe machen, da Ihr doch hier seid. Ein Traum von Euch wird mich sicher durch die Nacht geleiten. Es wäre mir eine große Freude, wenn Ihr mir die Erlaubnis gäbet von Euch zu Träumen.“ An dieser Stelle musste Vater-Mann immer sehr tief seufzen.

- „Nun mein Kind, zu welchen Opfern ist ein Elter nicht bereit, wenn es dem Kinde frommt. Nur treib es in der Nacht nicht zu arg. Dein Vater-Mann ist nicht mehr jung und unbelastet. Früh hat ihn die Sorge und Mühsal altern lassen.“

- „Habt Vielen Dank, liebster Herr Vater-Mann“.

- „Und jetzt ab ins Bett – keine weiteren Verzögerungsversuche mehr.“

Tochter-Kind geht ab.

Jungen sind anders. Ganz anders. Nicht soviel Reden, Aktion ist angesagt. Kleiner-Bruder, dass Sohn-Kind hat es zu einem andersartigen Ritual gebracht. Dieses Ritual ist dafür auch fast völlig von Sohn-Kind selbst geschaffen worden. Es heißt: „Wir treffen uns auf der Treppe“.

„Wir treffen uns auf der Treppe“ kommt immer dann, wenn Sohn-Kind seine Zähne geputzt hat und ins Bett soll. Früher einmal kam Sohn-Kind dann die Treppe hinunter in den Wohnbereich näherte sich Vater-Mann und sagte das schon berühmte: „Guhhute Naaacht“. Sohn-Kind dehnt die Worte bei bestimmten Gelegenheiten. Irgendwann einmal – niemand weiß mehr den Anlass – lief Vater-Mann Sohn-Kind hinterher und wollte ihn fangen. Diese ganze Aktion verlief mit viel Gekreisch und Lachen und Schreien und endete im Zimmer von Kleiner-Bruder. Besonders gut gefallen hat Sohn-Kind die Jagt auf der Treppe. Mutter-Frau stand oben auf der Galerie, als Sohn-Kind nach oben stürmte und schrie: „Schnell Mutter-Frau mach die Türe auf! Hilfe! Haha.“. Die Jagt endet immer vor dem grünen Teppich. Das ist neutraler Boden. Manchmal versucht Sohn-Kind sein Glück, wenn er während Vater-Mann noch im Zimmer weilt, die Neutrale Zone verlässt und Vater-Mann provoziert. „komm doch, du kriegst mich nicht.“ Gemein und unfair ist es dann, wenn Vater-Mann ihn doch erwischt und damit droht Sohn-Kind in den Po zu beißen. Großes Geschrei: „Nein, das gilt nicht, Hilfe.“ Lässt Vater-Mann Sohn-Kind daraufhin wieder los, so beginnt das Spiel wieder von vorne.

„Wir treffen uns auf der Treppe“, ruft Sohn-Kind von der Galerie. Vater-Mann erhebt sich und beginnt mit den Vorbereitungen zur Jagt. Vor der Treppe zieht Vater-Mann die Pantoffel aus, damit er schneller die Treppe hinauf rennen kann. Mutter-Frau wird von Sohn-Kind neben der Türe postiert. Langsam kommt er die Stufen herunter. Zu Mutter-Frau gewandt macht er die Geste mit dem Daumen nach oben. „Gute Naacht“.

- „Ja, komm mein Kind“ – einschmeichelnd.

- „Ich komme schon. Gute Naacht“.

Vater-Mann legt die Arme um Sohn-Kind und haucht einen Kuss auf das Haupt des Sohnes. Dieser macht sich frei und schleicht, rückwärts gehend einige Stufen nach oben. Scheint eine sichere Position erreicht zu sein und Vater-Mann steht immer noch abwartend am Fuß der Treppe, beginnt Sohn-Kind mit seiner Elter-Beschimpfung: „Altersschwacher Tarzan. Rostige Bananenschale. Krieg mich doch“. Woraufhin Vater-Mann von wilder Empörung gepackt beginnt, die Treppe nach oben zu laufen und den bösen Buben einzufangen und ihn Mores zu lehren. „Was für eine Unverschämtheit. Warte, Bursche, ich kriege dich und dann ergeht es dir schlecht.“

- „Mutter-Frau, schnell, mach die Türe auf“, schreit Sohn-Kind von wilder Panik gepackt und stürmt auf sein Zimmer zu, Vater-Mann hat ihn schon fast erreicht, versucht Sohn-Kind mit den Armen zu umschlingen, Sohn-Kind duckt sich. Entkommt im letzten Augenblick der tödlichen Umklammerung und erreicht gerade noch den grünen Teppich.

Gerettet!

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